Kannibalismus
Unter „Kannibalismus“ (engl.: cannibalism) wird das Fressen von Artgenossen, auch des eigenen Nachwuchses verstanden1). Dagegen abgegrenzt wird der Begriff „Infantizid“ (auch „Kronismus“), der das Töten von Jungtieren durch die eigenen Eltern oder durch fremde Artgenossen beschreibt. Der „Infantizid“ im Tierreich schließt aber den „Kannibalismus“, also das Fressen des getöteten Nachwuchses, nicht zwingend mit ein.
Während der Trächtigkeit wird die Plazenta (Mutterkuchen) gebildet, die den Embryo mit Nährstoffen versorgt, Ausscheidungsprodukte entfernt und den Gasaustausch gewährleistet. Die Plazenta wird nach dem Embryo geboren und deshalb auch als „Nachgeburt“ bezeichnet. Sie wird von der Mutter nach der Geburt gefressen, was sie u. a. mit wichtigen Nährstoffen nach der zehrenden Trächtigkeit versorgt. Es ist normal, dass Säugetiere, die sich normalerweise herbivor ernähren, die Plazenta fressen. Das Verhalten dient, neben der eigenen Versorgung, auch dem Schutz des Nestes mit dem Nachwuchs vor Räubern, die durch den Geruch angelockt werden könnten. Normalerweise unterscheiden Weibchen zwischen der Nachgeburt und dem Neugeborenen, aber bei Hauskaninchen kommt es doch häufig zu einem An- bzw. Auffressen des Neugeboren bis hin zum Fressen des ganzen Wurfes. Seltener tritt das Fressen von Jungtieren ein oder mehrere Tage nach der Geburt auf.
Sawin and Crary, 19532) beschrieben die Form des „cannibalistic infanticide“ (kannibalistischer Infantizid) bei domestizierten Tieren. Dabei wurden Jungtiere verletzt und teilwiese an- und aufgefressen. Konstatiert wurde in ihrer Untersuchung von Hauskaninchen eine Quote von Kannibalismus, die rasseabhängig 8-13,9% aller Geburten betrug.
Denenberg, et al., 19593) definierten Kannibalismus ebenfalls als das teilweise oder gänzliche Fressen von Tieren und stellten eine Rasseabhängigkeit bei Kaninchen für dieses Verhalten fest.
Von Joppich, 19674) wurde ein Versuch des schwedischen Wissenschaftlers S. Nordfeldt mit weißen Landkaninchen beschrieben. Den Tieren wurde ein Mischfutter, bestehend aus Heu-, Soja- und Hafermehl, Weizenkleie, Mineralien sowie in den Wintermonaten zusätzlich Lebertran verabreicht. Festgestellt wurde ein erheblicher Rückgang der Fruchtbarkeit, mehrmaliges Verwerfen und Kannibalismus. Die Sterblichkeit in den Würfen erreichte 70 bis 80%. Die Wirkungen wurden weder durch Infektionen noch durch Parasiten hervorgerufen, sondern waren auf Vitaminmangel zurückzuführen. Lebten die Jungtiere länger, traten Lähmungen des Vorder- und Hinterkörpers oder schiefe Kopfhaltungen auf. Im zweiten Versuch wurde lediglich die große Menge des Heumehles (65,9%) durch frisches Grün (Löwenzahn, Timothy und Quecke) ersetzt, die anderen Bestandteile wurden weiterhin gefüttert. Die Tiere erlangten daraufhin ihre normale Fruchtbarkeit zurück und die Sterblichkeit unter den Jungtieren betrug nun noch 4%.
Dorn, 19735) machte u. a. fehlende Hormone für „eine widernatürliche Bösartigkeit und Angriffslust den Neugeborenen gegenüber“ verantwortlich.
Nach Scheelje, 19756) spielt „eine gewisse Veranlagung der Tiere“ eine Rolle, „da das Auffressen der Jungen bei bestimmten Häsinnen häufig, bei anderen gar nicht festgestellt wurde.“ Weiterhin wurden verschiedene Umwelteinflüsse wie z. B. Fütterung, Haltung, Jahreszeit sowie Stoffwechselstörungen als in Frage kommend genannt.
Verga et al., 19787) bezeichneten Kannibalismus und Vernachlässigung von Jungtieren als typischste Anomalien im mütterlichen Verhalten von Kaninchen. Mit „Vernachlässigung“ der Jungtiere ist in diesem Fall gemeint, dass Kaninchenweibchen Jungtiere, die sich außerhalb des Nestes befinden, nicht in dieses zurückbringen („non-retrieving“). Diese Tiere sterben in der Regel auf Grund von Unterkühlung.
Kötsche und Gottschalk, 19908) unterschieden zwischen dem Auffressen verendeter oder totgeborener Jungtiere beim Wildkaninchen, welches als eine „zweckmäßige, der Nesthygiene dienende Instinkthandlung anzusehen ist“ und dem eigentlichen Kannibalismus als „Untugend“. Diese beruhe meist auf Störungen des Stoffwechsels und hormoneller Funktionen, welche wiederum auf Fehler in der Fütterung und Haltung tragender und säugender Häsinnen zurückgingen: „Fütterungsbedingte Ursachen sind vor allem die nicht ausreichende Versorgung mit Eiweiß und Mineralstoffen sowie eine nicht ausreichende Flüssigkeitszufuhr, entweder in Form von Grün- bzw. Naßfutter oder von Trinkwasser, die auf Grund unserer Erfahrungen die Hauptursache zu sein scheint. Säugende Häsinnen haben außerhalb der Grünfutterperiode oder bei Fertigfutter einen sehr hohen Flüssigkeitsbedarf, der etwa 150 bis 250 ml/Tag beträgt.“.
Künkele, 19929) stellte im Rahmen einer Dissertaion Fälle von Infantizid bei Wildkaninchen unter semi-natürlichen Bedingungen in einem Freigehege fest. In diesem Fall wurden die Jungtiere also nicht an- oder aufgefressen, sondern so schwer verletzt, dass einige von ihnen starben (9 von 74 = 12%). Die Wunden wurden offenbar mit Krallen und Schneidezähnen zugefügt, die nicht von Räubern stammten, die Zutritt zu dem Gelände hatten (wie Marder, Iltis und Wiesel). Die Begleitumstände waren eher ungewöhnlich, denn in den beobachteten Fällen konkurrierten zwei Häsinnen um einen Bau, an dem sie auch abwechselnd gemeinsam gruben. Normalerweise bringen nicht zwei verschiedene Häsinnen in einem Bau ihre Jungen zur Welt. Da aber die Populationsdichte zu diesem Zeitpunkt sehr hoch war (43 ausgewachsene Tiere/ha 1989 im Vergleich zu < 21 Tiere/ha im Jahr zuvor), wurde der Platz für Satzröhren knapp, was zu dieser Ausnahmesituation führte. Zwei Tage vor dem ersten Wurf begann das Graben am Bau. Als erste brachte das rangniedere Weibchen ihren Wurf mit 4 Jungtieren zur Welt, die am nächsten Morgen alle alle verwundet waren. Ein Jungtier war bereits tot, eines starb 3 Tage später. 5 Stunden später am gleichen Tag gebar die zweite, ranghöhere Häsin ihren Wurf mit 3 Jungtieren im gleichen Bau, die bei der Kontrolle unversehrt waren. Von da an verteidigte diese Häsin 6 Tage lang den Bau gegenüber der rangniederen Mutter des ersten Wurfes, die keine Chance bekam, ihre verbliebenen zwei Jungen zu säugen. Trotzdem lebten am 12. Tag alle 5 Jungtiere der beiden Würfe, die des ersten Wurfes waren gegenüber denen des zweiten lediglich etwas leichter (erster Wurf = 158 und 176 g gegenüber dem zweitem Wurf = 198, 195 und 193 g). Das bedeutet, dass zwar das ranghöhere Weibchen dem rangniederen keine Chance ließ, ihre Jungen zu säugen, sie aber diese offenbar mitversorgte. Obwohl sie also vor ihrer eigenen Niederkunft die Jungtiere der rangniederen Häsin so attackierte, dass zwei starben, verhalf sie den verbliebenen beiden zum Überleben, in dem sie sie gemeinsam mit ihren eigenen säugte. In anderen Fällen, in denen zwei verschiedene Würfe in einem Bau aufgezogen wurden und Jungtiere durch Verletzungen starben, war dies auf den Nestbau zurückzuführen. Das heißt, die Jungtiere des ersten Wurfes erlitten Verletzungen, während die zweite Häsin das Nest für ihren Wurf vorbereitete.
In der Dissertation von Slolarski, 200110) wurde unter dem Punkt „2.4.5. Verhaltensstörungen“ als mögliche Folgen einer falschen Standortwahl für die Unterbringung von Kaninchen das „Töten von Jungtieren, Kronismus und Kannibalismus“ aufgeführt (Tabelle 4, S. 38). Für die Verhaltensweisen wurde der Begriff „Ethopathie“ benutzt, der eine Verhaltensänderung beschreibt, welche einen pathologischen Charakter annehmen kann. Das Töten von Jungtieren und Kronismus beschreiben dabei aber eigentlich die gleiche Verhaltensstörung.
In einem Review-Artikel von Marai & Rashwan, 200311) wurde festgestellt, dass das Phänomen des Kannibalismus bei Kaninchen ausgelöst werden kann durch:
- eine erstmalig gebärende, überforderte Häsin,
- das Fressen der Plazenta,
- Störungen in der Umwelt oder
- eine Nahrung mit geringem Energiegehalt.
Dr. W. Schlolaut, ehemaliger Vorsitzender und heutiges Ehrenmitglied der WRSA, benutzte den Begriff „Kannibalismus“ in seinem Werk „Das große Buch vom Kaninchen“12) zehnmal. So wurde u. a. folgendes festgestellt:
- „Durchschnittlich 6-8% der geborenen Jungtiere werden bei der Nestkontrolle nach der Geburt tot vorgefunden. Als Ursachen kommen in Frage: Geringes Geburtsgewicht, Kannibalismus, Verzögerung der Geburt bei Einlingen, Unterkühlung sowie infektiöse Erkrankungen (z. B. Listeriose und Salmonellose).“. (S. 192)
- „Kannibalismus (Häsin frißt die eigenen Jungtiere) ist rassenbedingt bei pigmentierten Rassen häufiger zu beobachten als bei albinotischen. Erstlingswürfe sind davon stärker als die folgenden betroffen. Die Bereitstellung eines geschlossenen Wurfkastens vermag das Auftreten von Kannibalismus zu reduzieren, da dieser dem Schutzinstinkt besser Rechnung trägt. Bei der Nestkontrolle ist die Häsin vom Nest fernzuhalten.“. (S. 198).
- „Die zusätzliche Verabreichung von Futtermitteln mit geringer Nährstoffkonzentration (Heu, Stroh, Grünfutter) sorgt dann für Sättigung und die Vermeidung von durch Langeweile verursachtem Fehlverhalten (Haarfressen, Kannibalismus).“. (S. 242)
In einer weiteren Dissertation gab Tetens, 200713) in einer Übersicht (Tab. 2-14, S. 57) aus verschiedenen Quellen „Haltungsbedingte Verhaltensstörungen und Technopathien bei Kaninchen in intensiver Haltung“ an. Dazu gehören „gestörtes Säugeverhalten, Kronismus und Kannibalismus“. Als „Technopathie“ wird eine Erkrankung bzw. Verhaltensstörung bezeichnet, die durch ein Haltungsverfahren bedingt ist.
González-Redondo und Zamora-Lozanom, 200814) stellten bei Wildkaninchen, die versuchsweise in Käfigen gehalten wurden, eine Kannibalismus-Quote von 13,3% über alle Würfe fest, in der die Jungtiere von der Mutter angefressen wurden. Da bei diesen Tieren der Kampf um Nestplätze entfiel, kamen nach Meinung der Autoren nur noch die Umgebungs- und Haltungsbedingungen und der damit verbundene Stress für die hohe Rate in Frage. Das heißt, ein Verhalten mit tödlichem Ausgang für die Tiere, welches bei Wildkaninchen die Ausnahme und eher ein Versehen beim Fressen der Plazenta oder dem Nestbau darstellt, bildet in der Haltung domestizierter Kaninchen eine ernstzunehmende Größe bzw. Gefahr bei der Aufzucht von Jungtieren. Sie empfahlen für eine Prävention von Kannibalismus unter intensiven Haltungsbedingungen die Besatzdichte sowie die Konstruktion von Käfigen und Nistkästen auf einen Einklang mit den ethologischen Anforderungen von Wildkaninchen zu überprüfen.
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